„I am human, politicians are human“: Was wir aus Jacinda Arderns Rücktritt lernen können

Text von

Verena Beck, Editorial Director LOOPING GROUP

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©Kerry Marshall via Getty Images
20.01.2023 5 MINUTEN

  • Jacinda Ardern war zu ihrem Amtsantritt im Jahr 2017 die jüngste weibliche Regierungschefin der Welt. Ihr Rücktritt ist würdevoll, integer, mutig. Und er zeigt, wie wichtig Authentizität in der Redaktionellen Gesellschaft ist.

  • Der Kommunikationsstil der Neuseeländerin ist beispielhaft für ein neues Führungsverständnis, das von der jüngeren Generation geprägt wird.

  • Wie gelingt authentische Kommunikation? Drei Lektionen aus Arderns Rücktritt

Fünf Jahre im Amt scheinen auf den ersten Blick keine lange Zeit zu sein. Schauen wir auf die Jahre 2017 bis 2022, wird klar: Zeit(geschichte) ist relativ. 

In diesen fünf Jahren war Jacinda Ardern vor allem eines: Krisenmanagerin. Eine Pandemie mit schmerzlichen sozialen und ökonomischen Folgen. Ein Terroranschlag in Christchurch. Die Folgen des Klimawandels in einem Land, das ohnehin von Naturkatastrophen wie dem Vulkanausbruch auf White Island betroffen ist. Das waren nur einige der Katastrophen, mit denen Jacinda Ardern als Premierministerin zu kämpfen hatte. 

Als sie 2017 im Alter von 37 Jahren ihr Amt antrat, war sie die jüngste weibliche Regierungschefin der Welt. Nun tritt sie überraschend zurück. 

Warum? Aus Verantwortung und Respekt gegenüber einem Amt, dessen Anforderungen so komplex wie nie erscheinen. Jacinda Ardern weiß, was es heißt, ein Land in schweren Zeiten zusammenzuhalten. Und sie beschloss, dass sie dieser Aufgabe nicht mehr gerecht werden kann. Sie habe keine Kraft mehr, diesen Job zu machen, sagte die 42-jährige in ihrer Rücktrittsrede. „Mein Tank ist leer.“

Ihre Rücktrittserklärung ist aufrichtig, selbstreflektiert, und zeugt von großer Stärke. „Ich hoffe, dass den Neuseeländer:innen die Überzeugung bleibt, dass man gütig, aber dennoch stark, empathisch und dennoch entschlossen, optimistisch und dennoch zielstrebig sein kann“, sagte sie.

Die Macht der Menschlichkeit

Was bleibt, ist schon jetzt ein Paradigmenwechsel in der Kommunikation von Politiker:innen und Führungspersönlichkeiten. Die Authentizität und Integrität, die Arderns Kommunikation auszeichnet, ist in vielerlei Hinsicht beispiellos. 

So schreibt die Harvard Political Review: „Während des 20. Jahrhunderts gelangten Politiker an die Macht, indem sie traditionell männliche Eigenschaften wie Aggression und Sturheit zeigten, um ihre Opposition zu dominieren.“ Höchste Zeit, dass andere Werte in der politischen Sphäre gelten. Arderns Rollenverständnis zeigt eindrucksvoll, dass sie den demokratischen Gedanken verstanden hat: Führung ist kein Recht, das bestimmten Persönlichkeiten zusteht. Sondern eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die man führt. 

Nicht nur Politiker:innen können von Jacinda Ardern lernen. Wer einer Gruppe, einem Unternehmen, einem Land oder einer Institution vorsteht, sollte Verantwortung übernehmen können – für sein Handeln, seine Kommunikation und die Folgen daraus. 

Was simpel klingt, fällt vielen Führungskräften schwer. Menschlichkeit und Empathie zeigen? Oder sich gar eingestehen, dass man nicht auf alles eine Antwort weiß? Auf keinen Fall! Das könnte ja als Schwäche ausgelegt werden. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Sich der Komplexität der Welt und seiner eigenen Rolle darin gewahr zu sein, ist stark. Verletzlichkeit schafft Vertrauen.

Dazu gehört auch: Wissen, wann es Zeit ist, zu gehen. Rücktritte haben in unserer Gesellschaft einen unverdient schlechten Ruf. Wer einmal befördert wurde, ob in ein Amt oder im Job, der kann nicht zurück. Auf der Karriereleiter darf es immer nur nach oben gehen. Dabei stellt sich eine Beförderung oft als falsch heraus – weil die neue Position doch nicht passt, weil die Kraft nicht (mehr) reicht. In dem Fall wäre es besser, zu gehen. Jacinda Ardern hat gezeigt, wie ein solcher Rücktritt mit Würde geht. 

Haltung zeigen, abwägen, Unsicherheiten einräumen – das alles gehört zum Repertoire einer glaubwürdigen Person. Ein stabiler Wertekompass zeigt nach Norden. Auch, wenn man den Horizont nicht sehen kann.

Was zeichnet einen authentischen Menschen aus?

Wie wichtig klare Worte sind, wusste auch der Spiegel-Gründer Rudolf Augstein mit seinem Credo „Sagen, was ist“. Es gibt sie, diese Menschen, die „sagen, was ist“, und dann auch tun, was sie sagen. 

Was ist ihr Geheimnis? Es lohnt sich, zum Verständnis die wissenschaftliche Definition von Authentizität heranzuziehen. Die Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman  definieren eine authentische Person anhand von vier Kriterien:

  • Bewusstsein: Ein authentischer Mensch weiß um die eigenen Werte, Handlungsmotive, Gefühle, Wünsche und Einstellungen. Dazu gehört das Bewusstsein für die eigenen Stärken und Schwächen sowie Aspekte der Persönlichkeit.
     
  • Unvoreingenommene Verarbeitung: Ein authentischer Mensch zeigt keine Anzeichen von Verleugnung, Verzerrung, Übertreibung oder Ignorieren von Meinungen, Erfahrungen und externem Feedback. Er ist in der Lage, die eigenen Stärken und Schwächen zu akzeptieren und objektiv zu bewerten.
     
  • Konsequenz: Ein authentischer Mensch handelt in Einklang mit seinen Wertvorstellungen – auch, wenn ihm dadurch Nachteile entstehen. 
     
  • Kooperative Haltung: Ein authentischer Mensch bemüht sich um Offenheit und Wahrhaftigkeit im Umgang mit anderen. Er ist bereit, die positiven und negativen Aspekte seiner Persönlichkeit zu akzeptieren und zu zeigen.  

Kommunikation ist Führung – gerade in Krisenzeiten

Authentizität ist besonders in der heutigen Redaktionellen Gesellschaft entscheidend, in der Demokratien durch soziale Medien so partizipatorisch sind wie nie, in der Unternehmen und Politiker:innen einer immer kritischeren Öffentlichkeit gegenüber stehen. Wie können Führungspersönlichkeiten authentisch kommunizieren und ihrer Verantwortung gerecht werden? 

Drei Lehren aus Jacinda Ardens Führungskommunikation:

  1. Authentisch ist, wer seine Fähigkeiten und Ressourcen realistisch einschätzen kann und zu kommunizieren weiß. Verantwortung tragen heißt auch, zu wissen, wann man sie abgeben muss. Menschlichkeit ist keine Schwäche. Unwissenheit und Verletzlichkeit auch nicht. Ignoranz hingegen schon.
     
  2. Bewusstsein und Konsequenz: Sowohl in der Politik als auch in der Unternehmenswelt gilt es, klare Werte zu definieren und sie konsequent zu verfolgen – und zwar gegen Widrigkeiten. Auch, wenn das Umsatzeinbußen zur Folge hat oder man eine unpopuläre Entscheidung vertreten muss. 
     
  3. Handeln statt Abwarten: Eine gut überlegte und wertgeleitete Entscheidung, die sich im Nachhinein als falsch herausstellt, ist besser, als keine getroffen zu haben. Wer authentisch ist, geht mutig voran – auch und insbesondere in unsicheren Zeiten. 

Zur Person

Verena Beck ist als Editorial Director bei der LOOPING GROUP in München zuständig für die globale externe und interne Kommunikation der BMW Group. Zuvor war sie als Redenschreiberin für Vorstände der Siemens- und Siemens Energy AG tätig. Als Kommunikations- und Politikwissenschaftlerin interessiert sich Verena vor allem für die politische Kommunikation international tätiger Unternehmen.

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