Herr Prof. Vogl, Sie haben im vergangenen Jahr als Gastprofessor an der Eliteuniversität Princeton gelehrt und den US-Wahlkampf hautnah miterlebt. Welche Rolle spielte X dabei?
X ist ein zentraler Bestandteil eines medialen Ökosystems, das stark von der politischen Rechten dominiert wird. Man muss sich das wie eine Allianz aus drei Säulen vorstellen: FOX News, dem meistgesehenen Nachrichtensender, der Sinclair Broadcast Group, einem riesigen Netzwerk mit 179 TV-Stationen, und schließlich soziale Medien, von denen inzwischen die Hälfte der Amerikaner Nachrichten beziehen. Twitter, jetzt X, war bereits 2016 ein entscheidender Faktor im ersten Wahlkampf von Donald Trump. Heute hat sich die Plattform zu einem Desinformationsapparat und eine Maschine zur Mobilisierung rechter und rechtsextremer Bewegungen entwickelt, auch in Deutschland.
Wie hat X im vergangenen Wahlkampf Politik gemacht? Haben Sie konkrete Beispiele?
Durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen: durch Algorithmen, mit denen Links auf verlässliche Nachrichtenquellen behindert wurden, durch Abschaffung der Kontrolle über Falschmeldungen und Verschwörungslegenden, durch die Privilegierung von rechten News Influencern. Zudem hat X die Methoden der Brexit-Kampagne (Stichwort Cambridge Analytica und Facebook) perfektioniert, insbesondere das sogenannte Micro-Targeting, also maßgeschneiderte Botschaften für kleinste Zielgruppen. Ein Beispiel: Wie bringt man jüdische und muslimische Wähler gleichermaßen gegen die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris auf? Jüdischen Nutzern wurde über X erzählt, Harris wolle Waffenlieferungen an Israel stoppen, während man gleichzeitig den moslemischen Wählern eine eiserne Treue von Harris/Biden gegenüber Israels Premierminister Netanjahu versichert hat. Das sind neue Formen des Wahlkampfs, in dem Wähler strategisch in separate Pseudo-Gemeinschaften zerlegt werden.
Würden Sie sagen, dass X die politische Polarisierung in den USA vorangetrieben und damit auch den Verlauf des vergangenen US-Wahlkampf bestimmt hat?
Ohne Zweifel. Allerdings nicht allein. Die gesamte Social-Media-Ökonomie trägt dazu bei, durch positive Feedback-Schleifen bestehende Meinungen, Vorlieben und Affekte zu verstärken. Das Geschäftsmodell sozialer Medien ist ein Programm zur Tribalisierung, zu kognitiven und affektiven Segregation – die Öffentlichkeit wird zersplittert, polarisiert und privatisiert.