"Die Kloake des Populismus" – Wie soziale Medien die Demokratie bedrohen

Ein Gespräch mit Prof. Joseph Vogl

Interview von

Michael Remke, Director Brand Protection at LOOPING ONE

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©Philipp Plum
16.01.2025 5 MINUTEN

  • Soziale Plattformen wie X haben die politische Kommunikation revolutioniert und eine Dynamik entfesselt, die zunehmend populistischen und politisch rechten Kräften in die Hände spielt. Einst als Orte offener Meinungsäußerung gefeiert, sind Soziale Medien wie X unter seinem exzentrischen Eigentümer Elon Musk ein maßgeblicher Treiber von Desinformation geworden.

  • In den USA bestimmen soziale Medien wie Facebook, X und Co. längst den Verlauf von Wahlkämpfen. Und auch in Deutschland wächst ihr Einfluss. Trotz geringer Nutzerzahlen kündigte Grünen-Chef Robert Habeck nach dem Aus der Ampel-Regierung zum Bundestagswahlkampf 2025 seine Rückkehr auf X an, um die Plattform nicht den "Schreihälsen" zu überlassen. Doch kann ein Gegensteuern in einem System gelingen, das das Laute und Extreme bevorzugt?

  • Im Interview mit P!NG spricht der Kultur- und Medienwissenschaftler Prof. Joseph Vogl über die perfiden Mechanismen sozialer Medien, ihre Folgen für die Demokratie und die Frage, ob es überhaupt noch ein Entkommen aus dieser digitalen Spirale der Polarisierung gibt. „Ohne Regulierung“, sagt der frühere Professor der Berliner Humboldt-Universität und heutiger Gastprofessor der US-Eliteuniversität Princeton, „werden X und andere soziale Medien demokratische Strukturen weiter untergraben“.

Herr Prof. Vogl, Sie haben im vergangenen Jahr als Gastprofessor an der Eliteuniversität Princeton gelehrt und den US-Wahlkampf hautnah miterlebt. Welche Rolle spielte X dabei?


X ist ein zentraler Bestandteil eines medialen Ökosystems, das stark von der politischen Rechten dominiert wird. Man muss sich das wie eine Allianz aus drei Säulen vorstellen: FOX News, dem meistgesehenen Nachrichtensender, der Sinclair Broadcast Group, einem riesigen Netzwerk mit 179 TV-Stationen, und schließlich soziale Medien, von denen inzwischen die Hälfte der Amerikaner Nachrichten beziehen. Twitter, jetzt X, war bereits 2016 ein entscheidender Faktor im ersten Wahlkampf von Donald Trump. Heute hat sich die Plattform zu einem Desinformationsapparat und eine Maschine zur Mobilisierung rechter und rechtsextremer Bewegungen entwickelt, auch in Deutschland.


Wie hat X im vergangenen Wahlkampf Politik gemacht? Haben Sie konkrete Beispiele?


Durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen: durch Algorithmen, mit denen Links auf verlässliche Nachrichtenquellen behindert wurden, durch Abschaffung der Kontrolle über Falschmeldungen und Verschwörungslegenden, durch die Privilegierung von rechten News Influencern. Zudem hat X die Methoden der Brexit-Kampagne (Stichwort Cambridge Analytica und Facebook) perfektioniert, insbesondere das sogenannte Micro-Targeting, also maßgeschneiderte Botschaften für kleinste Zielgruppen. Ein Beispiel: Wie bringt man jüdische und muslimische Wähler gleichermaßen gegen die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris auf? Jüdischen Nutzern wurde über X erzählt, Harris wolle Waffenlieferungen an Israel stoppen, während man gleichzeitig den moslemischen Wählern eine eiserne Treue von Harris/Biden gegenüber Israels Premierminister Netanjahu versichert hat. Das sind neue Formen des Wahlkampfs, in dem Wähler strategisch in separate Pseudo-Gemeinschaften zerlegt werden.


Würden Sie sagen, dass X die politische Polarisierung in den USA vorangetrieben und damit auch den Verlauf des vergangenen US-Wahlkampf bestimmt hat? 


Ohne Zweifel. Allerdings nicht allein. Die gesamte Social-Media-Ökonomie trägt dazu bei, durch positive Feedback-Schleifen bestehende Meinungen, Vorlieben und Affekte zu verstärken. Das Geschäftsmodell sozialer Medien ist ein Programm zur Tribalisierung, zu kognitiven und affektiven Segregation – die Öffentlichkeit wird zersplittert, polarisiert und privatisiert.

Kritiker werfen Elon Musk vor, X sei unter seiner Leitung zu einem Werkzeug für Populisten, Verschwörungstheoretiker und Extremisten geworden. Sie haben X einmal als „Kloake“ bezeichnet. Warum?


Die Bezeichnung hat mit dem Geschäftsmodell von X zu tun, das die Dynamik sozialer Medien noch einmal zuspitzt und auf Polarisierung sowie auf die Mobilisierung von Ressentiments setzt. Zugleich hat Musk selbst einen erheblichen Anteil daran: Er verbreitet regelmäßig Desinformation wie zum Beispiel die Behauptung der gestohlenen Wahlen beim Präsidentschaftswahlkampf 2020. Allein diese Beiträge wurden auf X drei Milliarden Mal angesehen. Andere Posts der Desinformation sowie zur Unterstützung von Trump sind sogar bis zu 17 Milliarden Mal aufgerufen worden. Musk nennt sich einen „Absolutisten der freien Meinung“, aber tatsächlich ist es ein „Absolutismus“ im wortwörtlichen Sinne – er allein entscheidet, was auf X als Meinungsfreiheit gilt.


Warum bleiben aber Unternehmen, Politiker und Wirtschaftsführer auf X aktiv?


Die Antwort ist simpel: X ist nach wie vor eine wichtige Werbeplattformen und nach der US-Wahl noch relevanter geworden. Unternehmen wie politische Akteure kommen kaum darum herum, solche Reichweiten zu nutzen – auch wenn man zuweilen ein schlechtes Gewissen haben mag.


Aber reicht das als Rechtfertigung?


Aber ja. Die Rücksicht aufs Geschäft, ob in der Politik oder Wirtschaft, trägt nicht unbedingt zu einer erfreulichen Charakterbildung bei.


Musk spricht oft von einer offenen, unzensierten Plattform. Trägt er als Unternehmer die Verantwortung, wenn Desinformation auf X verbreitet wird?


Von Meinungsfreiheit kann auf X keine Rede sein. Musk selbst zensiert Inhalte und bevorzugt seine eigenen Ansichten. Kritische Stimmen werden verbannt, Accounts werden gesperrt. Die Algorithmen sind so eingestellt, dass seine Stimme immer nach oben gespült wird. Dabei ist das Ziel nicht einfach, Lügen zu verbreiten – es geht auch darum, die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge systematisch aufzulösen. Das ist ein wirksames politisches Mittel in den Händen von Musk.

Trägt Musk also keine Verantwortung?


Im rechtlichen Sinne nein. Er kümmert sich nur um die Verknüpfung seiner Geschäftsinteressen mit politischer Macht. Diese Verantwortungslosigkeit hat übrigens systemischen Charakter. Im Jahr 1996 wurde Paragraf 230 des „Communications Decency Act“ verabschiedet. Damit wurde etwas geschaffen, was nahezu einzigartig in der Geschichte des jüngeren Kapitalismus ist: das Haftungsprivileg. Das heißt, dass Unternehmen für Produkte, mit denen sie ihr Geld verdienen, nicht mehr haftbar gemacht werden können. Die Regeln laufen darauf hinaus, dass Internet-Provider und Plattformen nicht mehr als Verleger oder Publisher für die von ihnen verbreiteten Inhalte verantwortlich gemacht werden können, sofern diese Inhalte von anderen Anbietern eingestellt werden. Das hat die Mobilisierungsstrategie von X erst möglich gemacht.


Hat sich X längst zu einer „vierten Gewalt“ entwickelt, wie man sie sonst den klassischen Medien zuschreibt?


Schwer zu sagen. Früher hätte ich behauptet, dass die vierte Gewalt das Finanzwesen sei, die Macht der Zentralbanken und der globalen Märkte. Aber sollten der Journalismus und die Presse je eine vierte Gewalt repräsentiert haben, so wurden sie durch die Meinungsmacht der Plattformen verdrängt. 


Mit der Präsidentschaft von Donald Trump hat Musk als dessen lautstarker Unterstützer noch mehr an Einfluss gewonnen. Wird X dadurch noch mächtiger?


Musk und Trump sind ein Operettenpaar und gerade in Champagnerlaune. Die verbreitet sich auch über X, das nun zu einer Art Regierungsorgan geworden ist. Und dort intoniert man die Melodien eines neuen autokratischen oder oligarchischen Kapitalismus.


In Deutschland spielt X eine eher kleinere Rolle. Laut einer Studie nutzen nur drei Prozent der Deutschen die Plattform täglich und sieben Prozent wöchentlich. Hat X dennoch Einfluss auf die politische Landschaft?


Man bemüht sich ja redlich und lässt die AfD über die freundliche Unterstützung durch Musk und X im gegenwärtigen Wahlkampf frohlocken. Etwas nüchterner gesagt: Anfang 2024 waren auf X ca. 50.000 gefälschte Nutzerkonten unterwegs, zudem eine Million Postings gegen die Bundesregierung in Bezug auf den Ukrainekrieg. Das betrifft soziale Medien insgesamt. Schon vor Jahren hatte die AfD auf Facebook über 87 Prozent aller Shares der politischen Parteien in Deutschland. Und nach jüngeren Untersuchungen verbreiten sich Falschmeldungen im Netz sechs Mal so schnell und hundert Mal so häufig wie überprüfbare Nachrichten.

Robert Habeck kündigte nach dem Bruch der Ampelkoalition seine Rückkehr auf X an, um die Plattform nicht den „Schreihälsen“ zu überlassen. Ist das eine kluge Entscheidung?


Das scheint eher eine Verzweiflungstat zu sein und verspricht wenig Erfolg. Algorithmen auf sozialen Medien und insbesondere auf X sind darauf programmiert, dass das Laute mehr Informationswert hat als das Moderate, die krasse Meinung mehr als das Argument, die Erregung mehr als der Bericht, die Aggression mehr als das Vermittelnde. Das ist die technologische und ökonomische Struktur solcher Plattformen. Und das prägt den politischen Stil, ob man will oder nicht.


Ist es naiv, wenn Habeck sagt, er wolle X nicht den Populisten überlassen?


Ja, denn es wird nicht funktionieren. Soziale Medien forcieren Ideen plebiszitärer Ermächtigung. Sie nähren die Phobie gegen so genannte Gatekeeper oder Schwellenhüter, gegen Journalisten und Redakteure, gegen Parlamente und politische Repräsentanten. Man hat es mit einem evangelikalen Digitalkult zu tun: Die Stimme des Herrn soll direkt und ungefiltert in mein Ohr dringen. Diese Illusion einer Direktkommunikation zwischen Leadern und ihren Anhängern untergräbt die Prinzipien einer repräsentativen Demokratie.


"Die sozialen Medien helfen den Rechten", sagen Sie. Gibt es für gemäßigte Kräfte überhaupt noch eine Chance? 


Man sollte sich damit abfinden, dass sich die Blütenträume der frühen Netzaktivisten – wie ‚liquid democracy‘ – längst zerschlagen haben. Die robuste Privatisierung des Internets, das Haftungsprivileg für Konzerne und die Monopolbildung in der Plattformindustrie haben zu einer Lage geführt, in der soziale Medien keine demokratischen Hoffnungsträger mehr sein können. 

Welche Mittel gibt es, um die Macht sozialer Medien einzuschränken?


Es gibt dazu unterschiedliche Ideen. Dazu gehören etwa die Initiativen der EU zur Regulierung und Selbstverpflichtung von Plattformkonzernen im „Digital Services Act“. Man könnte auch an Abklingbecken denken, die auf technischer Ebene die Schnellkommunikationen, d.h. die unmittelbaren Verknüpfungen von Reiz und Reaktion im Netz unterbrechen. In einer idealen Medienwelt aber müsste das Haftungsprivileg für Plattformen und soziale Medien abgeschafft werden – denn de facto operieren sie ja als Verleger oder Publisher. Schließlich sollte man auch über eine Entprivatisierung öffentlicher Infrastrukturen nachdenken. Das aber wäre wohl das Ende der so überaus lukrativen Geschäftsmodelle.


Würde eine Zerschlagung der Unternehmen helfen, um das Monopol zu brechen und damit die Macht zu beschränken? Es gibt erfolgreiche Beispiele aus der US-Geschichte wie die Entflechtung des Rockefeller Imperiums, Standard Oil, im Jahr 1911 durch die US-Regierung oder die Aufspaltung des Telefonriesen AT&T in den 80er Jahren?


Ja, die USA waren und sind wenig zimperlich, was die Zerschlagung von Monopolen betrifft. So hat bereits ein US-Gericht Google zu einem illegalen Monopolisten auf dem digitalen Werbemarkt erklärt, was die Aufspaltung oder Entflechtung des Marktführers durchaus wahrscheinlich macht. Ähnliches ließe sich auch für Amazon vorstellen, ein Quasi-Monopol, das als privatisierter oder proprietärer Marktplatz den Zugang für Anbieter dominiert und regelt. Auch hier sind die Kartellbehörden bereits hellhörig geworden.


Das klingt alles sehr utopisch.


Das mag sein, aber ohne Regulierung und Verantwortlichkeit ist die Gefahr groß, dass soziale Medien weiterhin demokratische Strukturen untergraben. 

Zur Person

Prof. Joseph Vogl ist Philosoph und Medienwissenschaftler und war bis 2023 Professor an der Berliner Humboldt-Universität für Literatur- und Kultur-wissenschaft/Medien. Seit 2007 ist er Regular Visiting Professor an der US-Eliteuniversität Princeton. In seinem 2021 erschienenen Buch „Kapital und Ressentiment“ beschäftigt sich der 67-Jährige mit der Geschichte und dem Aufstieg der Plattformökonomie. 

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